Die Lehre von der Rechtfertigung aus dem
Glauben allein ist das „Heiligtum der Reformation.“ Als Martin Luther die wunderbare
Verheißung von der Gerechtsprechung des Sünders durch sein Vertrauen zum Gekreuzigten verstand, da war es ihm, als wäre er schon ins Paradies eingetreten.
Jahrelang hatte er als Mönch, Priester und theologischer Lehrer um das Verständnis des paulinischen Satzes gerungen: Im Evangelium „wird Gottes Gerechtigkeit geoffenbart“ (Röm 1,17). Tag und Nacht kreisten seine Gedanken um diesen Satz. Er selbst hatte gesagt, dass er den Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ hasste, weil er ihn nach den Kirchenvätern und Scholastikern philosophisch ver- stand: Als Gerechtigkeit, die Gott fordert, die aber der sündige Mensch nicht zu erbringen vermag und damit dem Gericht Gottes verfallen ist.
Begegnungen im Turm
Im Jahr 1545, ein Jahr vor seinem Tod, blickte der ehemalige Augustinermönch und spätere Reformator noch einmal zurück auf die Wende in seinem Leben, Glauben und Wirken. Diese Wende bedeutete den Durchbruch zur Erkenntnis, dass „Gerechtigkeit Gottes“ keine Forderung, sondern ein Geschenk darstellt: Die passive Gerechtigkeit, die Gott jedem zurechnet, der an Christus glaubt. Nach seinen Worten war ihm diese Erkenntnis in der Turmstube des Schwarzen Klosters zu Wittenberg gekommen: „In diesem Turm hat mir der Heilige Geist die Schrift geoffenbart.“
Biblische Gerechtigkeit
„Errette mich durch deine Gerechtigkeit.“ (Ps 31,2) Schon im Alten Testament ist Gottes Gerechtigkeit die den Sünder errettende Gerechtigkeit. Als Abraham die Verheißung von der zukünftigen Nachkommenschaft erhielt (1 Mo 15,5), war er kein „Super-Mensch“, sondern ein Sünder wie wir alle. Da er aber der Zusage Gottes vertraute, rechne- te Gott ihm dies als Gerechtigkeit an (1 Mo 15,6; EB). Das heißt, Gott sah in Abraham aufgrund seines Vertauensglaubens einen „Gerechten“. So wie in der Bibel der „Gottlose“ nicht einen Atheisten im modernen Sinn darstellt, sondern einen allgemeinen „Sünder“ (Ps 1,1; Spr 11,31), so ist auch der „Gerechte“ nicht der „Sündlose“, sondern der „Gläubige“ (Hab 2,4). Dies erlaubte dem Apostel Paulus festzustellen, dass auch im Alten Bund die Menschen nicht aus den Werken, sondern aus dem Glauben gerechtfertigt wurden (Röm 4,6–8). Der aber, der „rechtfertigt“, „gerechtspricht“ oder den, der glaubt „für gerecht erachtet“, ist allein Gott: „Der Herr [ist] unsere Gerechtigkeit.“ (Jer 23,6)
Gerechtigkeit ist also in der Bibel ein religiöser und nicht ein moralischer oder politischer Begriff. Menschen, die sich an die Gesetze und Vorschriften des Staates halten, sind nicht ungewöhnlich in unserer Welt. Aber ein Mensch, der für sich beansprucht, vor Gott gerecht zu sein, fällt einem verhängnisvollen Irrtum anheim, denn schon der Psalmist im Alten Testament weiß: „Vor dir ist kein Lebendiger gerecht.“ (Ps 143,2) Wenn also der Mensch vor Gott „recht“ werden soll, braucht er Gottes Gerechtigkeit. Darum sagt der Psalmist: „Rette mich durch deine Gerechtigkeit.“ (Ps 31,2; 71,2) Diese Gerechtigkeit ist primär Heilsgerechtigkeit, Rettung, nicht strafende Gerechtigkeit.
Im Licht des Neuen Testaments bedeutet dies, dass der Gott, der die Schuld und das Gericht der gottlosen Welt auf sich nimmt (Joh 1,29), für diese Schuld mit dem Gericht zahlt, das das Leben seines gerechten, sündlosen Sohnes am Kreuz kostet. Aufgrund eben dieses Opfers kann er den ungerechten Sündern vergeben, sie annehmen, in ihnen ein neues Denken und Leben wirken und ihnen die Hoffnung auf eine neue, gerechte Welt schenken (2 Ptr 3,13). Nur wenn der Mensch dieses Geschenk zurückweist, verfällt er dem Gericht für seine persönliche Ungerechtigkeit (Hbr 10,29–30).
Sie erkannten es nicht
„Da sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkannten“. (Röm 10,3 ELB) Die alttestamentlichen Propheten lehrten deutlich, dass der Mensch zwar Erlösung braucht, aber nichts dazu beitragen kann (Jes 64,5). Die Erlösung des Menschen erfordert Gottes Gerechtigkeit durch seine Vergebung und gnädige Annahme. Diese Wahrheit blieb in den Jahrhunderten nach Abschluss des Alten Testaments nicht mehr klar und deutlich erhalten.
In jener Zeit entstand in Israel auch die mündliche Lehre, die zur Auslegung biblischer Texte dienen sollte, aber bald selbst wie das geoffenbarte Wort Gottes bewertet wurde. So wurden Schriftwort und mündliche Überlieferung zur Basis des Glaubens. Das Gesetz, die Thora, wurde durch viele Ausführungsbestimmungen ergänzt, ja sogar überlagert (Mt 15,1–6) und umfunktioniert (Röm 9,31–32). Was als „Weisung zum Leben“ gedacht war, wurde zum „Weg des Heils“ umgeformt. Dieses Missverständnis führte zum religiösen Formalismus (Mt 23,23) und zur religiösen Überhebung (Lk 18,9-14) unter den Pharisäern in der Zeit Jesu.
Zwar war das Wissen von der Notwendigkeit der Gnade Gottes nicht ganz verloren gegangen, wie die alttestamentlichen Apokryphen beweisen, aber immer mehr pochte man auf den Wert der eigenen Werke, denen man sündentilgenden Charakter zuschrieb und die einen Verdienstanspruch vor Gott begründeten.
Das ganze Leben wurde zu einem „Joch der Sklaverei“, das den Pharisäern zu einer „Show ihrer Frömmigkeit“ diente, zur „Selbstglorifizierung ihres Lebens“ und zum Glauben, ihre Gerechtigkeit wäre ein „Pass zum Himmel“. Das ganze Leben wurde zu einem „knechtischen Joch“, das den Pharisäern dazu diente, „ihre Frömmigkeit zur Schau zu stellen“, zu einer „Selbstverherrlichung“ und zu dem Glauben, ihre Gerechtigkeit wäre ein „Freibrief für den Himmel“.
Verlorene Menschen und unser liebender Gott
Jesus setzte dieser Heilslehre ein großes Nein entgegen. Er bewahrte und lehrte ein grundsätzlich anderes Bild von Gott und den Menschen. So lotete er das Wesen des Menschen viel tiefer aus als die meisten seiner Zeitgenossen. Der Mensch, aus dessen Herz „böse Gedanken“ entspringen (Mt 15,19), ist gar nicht in der Lage, Werke zu vollbringen, die vor Gott taugen. Er bedarf einer radikalen Umkehr und des Glaubens an das Evangelium (Mk 1,15). Aber selbst dann, wenn er Jünger geworden ist, muss er alles von Gott erwarten, denn er selbst steht immer mit leeren Händen vor Gott (Mt 5,3), und was er in der Nachfolge Jesu tut, begründet kein Verdienst, sondern ist selbstverständlich (Lk 17,10).
Gott aber ist der barmherzige Vater, der die in ihren Sünden Verirrten beständig liebt, den Reuigen vergibt und sie gerne wieder annimmt (Lk 15,20– 24). Der Jünger ist zum Wirken berufen, aber den Lohn, den er dafür empfängt, kann er nicht bei Gott einfordern und verrechnen, denn Gott gibt aus Güte mehr als uns zusteht (Mt 20,15). So ist Lohn bei Gott nicht etwas Geschuldetes, sondern eine Gabe seiner Güte.
Was die Überlegenheit Martin Luthers über seine Gegner ausmachte, lag darin, dass er diese Erkenntnis nicht nur gelernt, sondern erfahren hatte. In vielen Kämpfen mit sich selbst, mit der Theologie seiner Zeit und ihren Vertretern hatte er erlebt, was zur Grunderfahrung des Christseins gehört: „Gerechtigkeit heißt Christus erkennen.“
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