Luthers Trennung von Rom
Unter denen, die berufen wurden, die Gemeinde aus der Finsternis in das Licht eines reineren Glaubens zu führen, stand Martin Luther an vorderster Stelle. Eifrig, feurig und hingebungsvoll kannte er kein Bangen außer der Gottesfurcht und ließ keine andere Grundlage für den religiösen Glauben gelten als die Heilige Schrift. Luther war der Mann für seine Zeit; durch ihn führte Gott ein großes Werk für die Reformation der Kirche und die Erleuchtung der Welt aus. – {GK 120.1}
Gleich den ersten Herolden des Evangeliums stammte Luther aus einer einfachen, wenig begüterten Familie. Seine frühe Kindheit brachte er in dem bescheidenen Heim eines deutschen Landmannes zu. Durch tägliche harte Arbeit als Bergmann verdiente sein Vater die Mittel zu seiner Erziehung. Er bestimmte ihn zum Rechtsgelehrten; aber nach Gottes Willen sollte aus ihm ein Baumeister werden an dem großen Tempel, der sich im Laufe der Jahrhunderte langsam erhob. Mühsal, Entbehrung und strenge Manneszucht waren die Schule, in der die unendliche Weisheit Luther für seine außerordentliche Lebensaufgabe vorbereitete. – {GK 120.2}
Luthers Vater war ein Mann von tatkräftigem, emsigem Geist und großer Charakterstärke, ehrlich, entschlossen und aufrichtig. Er stand zu dem, was er als seine Pflicht erkannt hatte, ganz gleich, welche Folgen dies haben mochte. Sein echter, gesunder Menschenverstand ließ ihn das Mönchswesen mit Mißtrauen betrachten. Er war höchst unzufrieden, als Luther ohne seine Einwilligung in ein Kloster eintrat. Es dauerte zwei Jahre, ehe sich der Vater mit seinem Sohn ausgesöhnt hatte, und selbst dann blieben seine Ansichten dieselben. – {GK 120.3}
Luthers Eltern verwandten große Sorgfalt auf die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder. Sie bemühten sich, sie in der Gotteserkenntnis und in der Ausübung christlicher Tugenden zu unterweisen. Oft hörte der Sohn das Gebet des Vaters zum Himmel emporsteigen, daß das Kind des Namens des Herrn gedenken und einmal die Wahrheit mit fördern helfen möge. Soweit es ihr arbeitsreiches Leben zuließ, nutzten die Eltern eifrig jede Möglichkeit, sittlich und geistig weiterzukommen. Ihre Bemühungen, ihre Kinder für ein Leben der Frömmigkeit und Nützlichkeit zu erziehen, waren ernsthaft und ausdauernd. In ihrer Entschiedenheit und Charakterfestigkeit verlangten sie von ihren Kindern zuweilen etwas zu viel; aber der Reformator selbst fand an ihrer Erziehungsweise mehr zu billigen als zu tadeln, obwohl er sich in mancher Beziehung bewußt war, daß sie geirrt hatten. – {GK 120.4}
In der Schule, die er schon in jungen Jahren besuchte, wurde Luther streng, ja geradezu hart behandelt. Die Armut seiner Eltern war so groß, daß er, als er das Vaterhaus verließ, um die Schule eines andern Ortes zu besuchen, eine Zeitlang genötigt war, sich seinen Unterhalt als Kurrende-Sänger zu erwerben, wobei er oft Hunger litt. Die damals herrschenden finsteren, abergläubischen Vorstellungen von der Religion erfüllten ihn mit Furcht. Er legte sich abends mit sorgenschwerem Herzen nieder, sah mit Zittern in die dunkle Zukunft und schwebte in ständiger Furcht, wenn er an Gott dachte, in dem er mehr einen harten, unerbittlichen Richter und grausamen Tyrannen als einen liebevollen himmlischen Vater sah. – {GK 121.1}
Dennoch strebte Luther unter sehr vielen und großen Entmutigungen entschlossen vorwärts, dem hohen Ziel sittlicher und geistiger Vortrefflichkeit zu, das seine Seele anzog. Ihn dürstete nach Erkenntnis, und sein ernster und praktisch veranlagter Charakter verlangte eher nach dem Dauerhaften und Nützlichen als nach Schein und Oberflächlichkeiten. – {GK 121.2}
Als er mit achtzehn Jahren die Universität in Erfurt bezog, war seine Lage günstiger und seine Aussichten waren erfreulicher als in seinen jüngeren Jahren. Da es seine Eltern durch Fleiß und Sparsamkeit zu einigem Wohlstand gebracht hatten, waren sie imstande, ihm alle nötige Hilfe zu gewähren; auch hatte der Einfluß verständiger Freunde die düsteren Wirkungen seiner früheren Erziehung etwas gemildert. Er studierte nun eifrig die besten Schriftsteller, bereicherte sein Verständnis mit ihren wichtigsten Gedanken und eignete sich die Weisheit der Weisen an. Sogar unter der rauhen Zucht seiner ehemaligen Lehrmeister hatte er schon früh zu Hoffnungen berechtigt, daß er sich einmal auszeichnen könnte, und unter günstigen Einflüssen entwickelte sich sein Geist jetzt schnell. Ein gutes Gedächtnis, ein lebhaftes Vorstellungsvermögen, eine überzeugende Urteilskraft und unermüdlicher Fleiß ließen ihn bald einen Platz in den vordersten Reihen seiner Gefährten gewinnen. Die geistige Erziehung reifte seinen Verstand und erweckte eine Geistestätigkeit und einen Scharfblick, die ihn für die Kämpfe seines Lebens vorbereiteten. – {GK 121.3}
Die Furcht des Herrn wohnte in Luthers Herzen; sie befähigte ihn, an seinen Vorsätzen festzuhalten und führte ihn zu tiefer Demut vor Gott. Er war sich ständig seiner Abhängigkeit von der göttlichen Hilfe bewußt und versäumte nicht, jeden Tag mit Gebet zu beginnen, während sein Herz ständig um Führung und Beistand flehte. Oft sagte er: „Fleißig gebetet ist über die Hälfte studiert.“ [1]Mathesius, „Luther-Historien“ 3. – {GK 122.1}
Als Luther eines Tages in der Universitätsbibliothek die Bücher durchschaute, entdeckte er eine lateinische Bibel. Solch ein Buch hatte er nie zuvor gesehen, wie er selbst bezeugte: „Da ich zwanzig Jahr alt war, hatte ich noch keine gesehen. Ich meinte, es wären keine Evangelien noch Episteln mehr, denn die in den Postillen sind.“ [1]„D. Martin Luthers sämtliche Werke“, Erlanger Ausgabe, LX, 255Nun blickte er zum erstenmal auf das ganze Wort Gottes. Mit ehrfürchtigem Staunen wendete er die heiligen Blätter um; mit beschleunigtem Puls und klopfendem Herzen las er selbst die Worte des Lebens, hin und wieder anhaltend, um auszurufen: „Oh, daß Gott mir solch ein Buch als mein Eigentum geben wollte!“ Engel Gottes standen ihm zur Seite, und Strahlen des Lichtes vom Thron des Höchsten enthüllten seinem Verständnis die Schätze der Wahrheit. Er hatte sich stets gefürchtet, Gott zu beleidigen; jetzt aber ergriff ihn wie nie zuvor eine tiefe Überzeugung seines sündhaften Zustandes. – {GK 122.2}
Das aufrichtige Verlangen, von Sünden frei zu sein und Frieden mit Gott zu haben, veranlaßte ihn schließlich, in ein Kloster einzutreten und ein Mönchsleben zu führen. Hier mußte er sich den niedrigsten Arbeiten unterziehen und von Haus zu Haus betteln. Er stand in dem Alter, in dem man sich am meisten nach Achtung und Anerkennung sehnt, und fühlte sich in seinen natürlichen Gefühlen durch diese niedrige Beschäftigung tief gekränkt; aber geduldig ertrug er die Demütigung, weil er glaubte, daß es um seiner Sünden willen notwendig sei. – {GK 122.3}
Jeden Augenblick, den er von seinen täglichen Pflichten erübrigen konnte, verwandte er aufs Studium; er gönnte sich wenig Schlaf und nahm sich kaum die Zeit für seine bescheidenen Mahlzeiten. Vor allem andern erfreute ihn das Studium des Wortes Gottes. Er hatte an der Klostermauer angekettet eine Bibel gefunden und zog sich oft zu ihr zurück. Je mehr er von seinen Sünden überzeugt wurde, desto stärker suchte er durch eigene Werke Vergebung und Frieden zu erlangen. Er führte ein außerordentlich strenges Leben und bemühte sich, das Böse seines Wesens, von dem sein Mönchstum ihn nicht zu befreien vermocht hatte, durch Fasten, Wachen und Kasteien zu besiegen. Er schreckte vor keinem Opfer zurück, das ihm möglicherweise zur Reinheit des Herzens verhelfen könnte, die ihm vor Gott Anerkennung brächte. „Wahr ist‘s, ein frommer Mönch bin ich gewesen, und habe so gestrenge meinen Orden gehalten, daß ich‘s sagen darf: ist je ein Mönch gen Himmel gekommen durch Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein; denn ich hätte mich (wo es länger gewährt hätte) zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“[1]Luther, EA, XXXI, 273 Infolge dieser schmerzhaften Zucht wurde er immer schwächer und litt an Ohnmachtsanfällen, von deren Auswirkungen er sich nie ganz erholte. Aber trotz aller Anstrengungen fand seine angsterfüllte Seele keine Erleichterung, sondern wurde immer verzweifelter. – {GK 123.1}
Als es Luther schien, daß alles verloren sei, erweckte Gott ihm einen Helfer und Freund. Der fromme Staupitz öffnete seinem Verständnis das Wort Gottes und riet ihm, seine Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken und mit den Betrachtungen über eine ewige Strafe für die Übertretung des Gesetzes Gottes aufzuhören und auf Jesus, seinen sündenvergebenden Heiland, zu schauen. „Statt dich wegen deiner Sünden zu kasteien, wirf dich in die Arme des Erlösers. Vertraue auf ihn — auf die Gerechtigkeit seines Lebens — auf die Versöhnung in seinem Tode. Horch auf den Sohn Gottes. Er ist Mensch geworden, dir die Gewißheit seiner göttlichen Gunst zu geben.“ — „Liebe ihn, der dich zuerst geliebt hat.“ [1]Walch, „D. Martin Luthers sämtliche Schriften“, II 264 So sprach dieser Bote der Gnade. Seine Worte machten tiefen Eindruck auf Luthers Gemüt. Nach manchem Kampf mit langgehegten Irrtümern erfaßte er die Wahrheit, und Friede zog in seine gequälte Seele ein. – {GK 123.2}
Luther wurde zum Priester geweiht und aus dem Kloster als Professor an die Universität Wittenberg berufen. Hier widmete er sich dem Studium der Heiligen Schrift in den Grundtexten, begann darüber Vorlesungen zu halten und erschloß das Buch der Psalmen, die Evangelien und Briefe dem Verständnis von Scharen begeisterter Zuhörer. Staupitz nötigte ihn, die Kanzel zu besteigen und das Wort Gottes zu predigen. Luther zögerte, da er sich unwürdig fühlte, als Bote Christi zum Volk zu reden. Nur nach langem Widerstreben gab er den Bitten seiner Freunde nach. Die Wahrheiten der Heiligen Schrift erfüllten ihn schon stark, und Gottes Gnade ruhte auf ihm. Seine Beredsamkeit fesselte die Zuhörer, die Klarheit und Macht in der Darstellung der Wahrheit überzeugte ihren Verstand, und seine Inbrunst bewegte die Herzen. – {GK 124.1}
Luther war noch immer ein treuer Sohn der päpstlichen Kirche und dachte nicht daran, je etwas anderes zu sein. Nach der Vorsehung Gottes bot sich ihm Gelegenheit, Rom zu besuchen. Er machte die Reise zu Fuß, wobei er in den am Wege liegenden Klöstern Herberge fand. Verwunderung erfüllte ihn, als er in einem Kloster in Italien den Reichtum, die Pracht und den Aufwand dieser Stätten sah. Mit einem fürstlichen Einkommen beschenkt, wohnten die Mönche in glänzenden Gemächern, kleideten sich in die reichsten und köstlichsten Gewänder und führten eine üppige Tafel. Schmerzlich besorgt, verglich Luther dieses Schauspiel mit der Selbstverleugnung und der Mühsal seines eigenen Lebens. Seine Gedanken wurden verwirrt. – {GK 124.2}
Endlich erblickte er aus der Ferne die Stadt der sieben Hügel. Tief bewegt warf er sich auf die Erde nieder und rief: „Sei mir gegrüßt, du heiliges Rom!“ Er betrat die Stadt, besuchte die Kirchen, lauschte den von den Priestern und Mönchen vorgetragenen Wundererzählungen und erfüllte alle vorgeschriebenen Zeremonien. Überall boten sich ihm Szenen, die ihn in Erstaunen und Schrecken versetzten. Er sah, daß unter allen Klassen der Geistlichkeit das Laster herrschte. Von den Lippen der Geistlichen mußte er unanständige Redensarten hören. Ihr gottloses Wesen, selbst während der Messe, entsetzte ihn. Als er sich unter die Mönche und Bürger mischte, fand er Verschwendung und Ausschweifung. Wohin er sich auch wandte, er traf statt Heiligkeit Entweihung. „Niemand glaube, was zu Rom für Büberei und greulich Sünde und Schande gehen ... er sehe, höre und erfahre es denn. Daher sagt man: ‚Ist irgendeine Hölle, so muß Rom drauf gebaut sein; denn da gehen alle Sünden im Schwang.‘“[1]Luther, EA, LXII 441 – {GK 124.3}
Durch einen kurz vorher veröffentlichten Erlaß war vom Papst allen denen Ablaß verheißen worden, die auf den Knien die „Pilatusstiege“ hinaufrutschen würden, von der gesagt wird, unser Heiland sei darauf herabgestiegen, als er das römische Gerichtshaus verließ, und sie sei durch ein Wunder von Jerusalem nach Rom gebracht worden. [1]Ranke, „Geschichte im Zeitalter der Reformation“, 8.Auflage, I 200 Luther erklomm eines Tages andächtig diese Treppe, als plötzlich eine donnerähnliche Stimme zu ihm zu sagen schien: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben!“ Römer 1,17. In Scham und Schrecken sprang er auf und floh von dieser Stätte. Jene Bibelstelle verlor nie ihre Wirkung auf seine Seele. Von jener Zeit an sah er deutlicher als je zuvor die Täuschung, auf Menschenwerke zu vertrauen, um Erlösung zu erlangen, und ebenso deutlich sah er die Notwendigkeit eines unerschütterlichen Glaubens an die Verdienste Christi. Seine Augen waren geöffnet worden, um nie wieder verschlossen zu werden. Als er Rom den Rücken kehrte, hatte er sich auch in seinem Herzen von Rom abgewandt, und von jener Zeit an wurde die Kluft immer tiefer, bis er schließlich alle Verbindung mit der päpstlichen Kirche abschnitt. – {GK 125.1}
Einige Zeit nach seiner Rückkehr aus Rom wurde Luther von der Universität zu Wittenberg der Titel eines Doktors der Theologie verliehen. Nun stand es ihm frei, sich wie nie zuvor der Heiligen Schrift zu widmen, die er liebte. Er hatte das feierliche Gelöbnis abgelegt, alle Tage seines Lebens Gottes Wort, und nicht die Aussprüche und Lehren der Päpste, zu studieren und gewissenhaft zu predigen. Er war nicht länger der einfache Mönch oder Professor, sondern der bevollmächtigte Verkünder der Heiligen Schrift; er war zu einem Hirten berufen, die Herde zu weiden, die nach der Wahrheit hungerte und dürstete. Mit Bestimmtheit erklärte er, die Christen sollten keine anderen Lehren annehmen, als die, welche auf der Autorität der Heiligen Schrift beruhten. Diese Worte trafen ganz und gar die Grundlage der päpstlichen Oberherrschaft; sie enthielten den wesentlichen Grundsatz der Reformation. – {GK 125.2}
Luther erkannte die Gefahr, menschliche Lehrsätze über das Wort Gottes zu erheben. Furchtlos griff er den spitzfindigen Unglauben der Schulgelehrten an und trat der Philosophie und Theologie, die so lange einen herrschenden Einfluß auf das Volk ausgeübt hatten, entgegen. Er verwarf deren Bemühen nicht nur als wertlos, sondern auch als verderblich und suchte die Gemüter seiner Zuhörer von den Trugschlüssen der Philosophen und Theologen abzuwenden und auf die ewigen Wahrheiten hinzulenken, die die Propheten und Apostel verkündigten. – {GK 126.1}
Köstlich war die Botschaft, die er der lebhaft anteilnehmenden Menge, die an seinen Lippen hing, bringen durfte. Nie zuvor waren solche Lehren an ihre Ohren gedrungen. Die frohe Kunde von der Liebe des Heilandes, die Gewißheit der Vergebung und des Friedens durch das versöhnende Blut Christi erfreute ihre Herzen und füllte sie mit einer unvergänglichen Hoffnung. In Wittenberg war ein Licht angezündet worden, dessen Strahlen die fernsten Teile der Erde erreichen und bis zum Ende der Zeit an Glanz und Klarheit mehr und mehr zunehmen sollten. – {GK 126.2}
Aber Licht und Finsternis können sich nicht vertragen, und zwischen Wahrheit und Irrtum besteht ein unvermeidbarer Kampf. Das eine aufrechterhalten und verteidigen heißt das andere angreifen und umstürzen. Unser Heiland selbst erklärte: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“ (Matthäus 10,34), und Luther schrieb einige Jahre nach Beginn der Reformation: „Gott reißt, treibt und führt mich; ich bin meiner nicht mächtig; ich will stille sein und werde mitten in den Tumult hineingerissen.“[1]Enders, „D. Martin Luthers Briefwechsel“, Bd. I 430, 20. Februar1519 — Er sollte nun in den Kampf gedrängt werden. – {GK 126.3}
Die katholische Kirche hatte die Gnade Gottes zu einem Handelsgut herabgewürdigt. Die Tische der Geldwechsler waren neben den Altären aufgestellt, und das Geschrei der Käufer und Verkäufer erfüllte die Luft. Vgl.Matthäus 21,12. Unter dem Vorwand, Mittel für den Bau der Peterskirche in Rom zu erheben, wurden namens der Autorität des Papstes öffentlich Sündenablässe zum Verkauf angeboten. Mit Frevelgeld sollte ein Tempel zur Anbetung Gottes errichtet, der Grundstein mit Lösegeld von der Sünde gelegt werden. Aber gerade das zu Roms Erhebung ergriffene Mittel veranlaßte den tödlichsten Schlag gegen seine Macht und Größe, erweckte die entschlossensten und erfolgreichsten Gegner des Papsttums und führte zu dem Kampf, der den päpstlichen Thron erschütterte und die dreifache Krone auf dem Haupt des römischen Oberpriesters ins Wanken brachte. – {GK 126.4}
Der römische Beauftragte Tetzel, dazu bestimmt in Deutschland den Verkauf von Ablässen zu leiten, war der gemeinsten Vergehen gegen die menschliche Gesellschaft und das Gesetz Gottes überführt worden; nachdem er jedoch der seinen Verbrechen angemessenen Strafe entronnen war, wurde er mit der Förderung der gewinnsüchtigen und gewissenlosen Pläne des Papstes beauftragt. In herausfordernder Weise wiederholte er die schamlosesten Lügen und erzählte Wundergeschichten, um das unwissende, leichtgläubige und abergläubische Volk zu täuschen. Hätten sie das Wort Gottes besessen, wären sie nicht so hintergangen worden. Die Heilige Schrift wurde ihnen vorenthalten, damit sie unter der Herrschaft des Papsttums blieben und dazu beitrügen, die Macht und den Reichtum seiner ehrgeizigen Führer zu mehren. – {GK 127.1}
Wenn der Dominikaner Tetzel, der den Ablaßhandel leitete, (Siehe Anm. 029) eine Stadt betrat, ging ein Bote vor ihm her und verkündigte: „Die Gnade Gottes und des heiligen Vaters ist vor den Toren.“ Und das Volk bewillkommnete den gotteslästerlichen Betrüger, daß „man hätte nicht wohl Gott selber schöner empfangen und halten können“. [1]v. Dorneth, „Martin Luther“ 102 Der schändliche Handel ging in der Kirche vor sich; Tetzel bestieg die Kanzel und pries die Ablässe als eine kostbare Gabe Gottes. Er erklärte, daß durch seine Ablaßzettel dem Käufer alle Sünden, „auch noch so ungeheuerliche, welche der Mensch noch begehen möchte“, verziehen würden. „Es wäre nicht Not, Reue noch Leid oder Buße für die Sünde zu haben“. Seine Ablässe besäßen die Kraft, Lebende und Tote zu retten; „wenn einer Geld in den Kasten legt für eine Seele im Fegfeuer, sobald der Pfennig auf den Boden fiel und klünge, so führe die Seele heraus gen Himmel.“[1]Luther, EA, XXVI 69f., „Wider Hans Wurst“ – {GK 127.2}
Als Simon der Zauberer sich von den Aposteln die Macht, Wunder zu wirken, erkaufen wollte, antwortete ihm Petrus: „Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, darum daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt!“ Apostelgeschichte 8,20. Aber Tetzels Anerbieten wurde von Tausenden gierig ergriffen. Gold und Silber flossen in seinen Kasten. Eine Seligkeit, die mit Geld erkauft werden konnte, war leichter zu erlangen als eine solche, die Reue, Glauben und eifrige Anstrengungen erforderte, der Sünde zu widerstehen und sie zu überwinden. – {GK 128.1}
Der Ablaßlehre hatten sich schon gelehrte und fromme Männer in der römischen Kirche widersetzt, und es gab viele, welche den Behauptungen, die der Vernunft und der Offenbarung zuwider waren, nicht vertrauten. Kein Geistlicher wagte es indessen, seine Stimme gegen diesen gottlosen Handel zu erheben; aber die Gemüter der Menschen wurden beunruhigt und ängstlich, und viele fragten sich ernsthaft, ob Gott nicht durch irgendein Werkzeug die Reinigung seiner Kirche bewirken würde. – {GK 128.2}
Obwohl Luther noch immer ein sehr eifriger Anhänger des Papstes war, erfüllten ihn die gotteslästerlichen Anmaßungen der Ablaßkrämer mit Entsetzen. Viele aus seiner eigenen Gemeinde hatten sich Ablaßbriefe gekauft und kamen bald zu ihrem Beichtvater, bekannten ihre verschiedenen Sünden und erwarteten Freisprechung, nicht weil sie bußfertig waren und sich bessern wollten, sondern auf Grund des Ablasses. Luther verweigerte ihnen die Freisprechung und warnte sie, daß sie, wenn sie nicht bereuten und ihren Wandel änderten, in ihren Sünden umkämen. In großer Bestürzung suchten sie Tetzel auf und klagten ihm, daß ihr Beichtvater seine Briefe verworfen habe; ja, einige forderten kühn die Rückgabe ihres Geldes. Der Mönch wurde zornig. Er äußerte die schrecklichsten Verwünschungen, ließ etliche Male auf dem Markt ein Feuer anzünden und „weiset damit, wie er vom Papste Befehl hätte, die Ketzer, die sich wider den Allerheiligsten, den Papst und seinen allerheiligsten Ablaß legten, zu verbrennen“. [1]Luther, Walch XV 471 – {GK 128.3}
Luther nahm nun kühn sein Werk als Kämpfer für die Wahrheit auf. Seine Stimme war in ernster, feierlicher Warnung von der Kanzel zu hören. Er zeigte dem Volk das Schändliche der Sünde und lehrte, daß es für den Menschen unmöglich sei, durch seine eigenen Werke die Schuld zu verringern oder der Strafe zu entrinnen. Nichts als die Buße vor Gott und der Glaube an Christus könne den Sünder retten. Gottes Gnade könne nicht erkauft werden; sie sei eine freie Gabe. Er riet dem Volk, keine Ablässe zu kaufen, sondern gläubig auf den gekreuzigten Erlöser zu schauen. Er erzählte seine eigene schmerzliche Erfahrung, als er umsonst versucht hatte, sich durch Demütigung und Buße Erlösung zu verschaffen, und versicherte seinen Zuhörern, daß er Friede und Freude gefunden habe, als er von sich selbst wegsah und an Christus glaubte. – {GK 129.1}
Als Tetzel seinen Handel und seine gottlosen Behauptungen fortsetzte, entschloß sich Luther zu einem wirksameren Widerstand gegen die schreienden Mißbräuche. Bald bot sich hierzu Gelegenheit. Die Schloßkirche zu Wittenberg war im Besitz vieler Reliquien, die an gewissen Festtagen für das Volk ausgestellt wurden. Vergebung der Sünden gewährte man allen, die dann die Kirche besuchten und beichteten. Demzufolge war das Volk an diesen Tagen in großer Zahl dort zu finden. – {GK 129.2}
Eine der wichtigsten Gelegenheiten, das Fest „Allerheiligen“, stand vor der Tür. Am Tage zuvor schloß Luther sich der Menge an, die bereits auf dem Wege nach der Kirche war und heftete einen Bogen mit 95 Thesen gegen die Ablaßlehre an die Kirchentür. Er erklärte sich bereit, am folgenden Tag in der Universität diese Sätze gegen alle, die sie angreifen würden, zu verteidigen. – {GK 129.3}
Seine Thesen zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wurden wieder und wieder gelesen und nach allen Richtungen hin wiederholt. Große Aufregung entstand in der Universität und in der ganzen Stadt. Durch diese Thesen wurde gezeigt, daß die Macht, Vergebung der Sünden zu gewähren und ihre Strafe zu erlassen, nie dem Papst oder irgendeinem andern Menschen übergeben worden war. Der ganze Plan sei ein Betrug, ein Kunstgriff, um Geld zu erpressen, indem man den Aberglauben des Volkes ausbeute — eine List Satans, um die Seelen aller zu verderben, die sich auf seine lügenhaften Vorspiegelungen verließen. Ferner wurde klar dargelegt, daß das Evangelium Christi der kostbarste Schatz der Kirche ist und daß die darin offenbarte Gnade Gottes allen frei gewährt wird, die sie in Reue und Glauben suchen. – {GK 129.4}
Luthers Thesen forderten zur Diskussion heraus; aber niemand wagte es, die Herausforderung anzunehmen. Die von ihm gestellten Fragen waren in wenigen Tagen in ganz Deutschland bekannt und erschollen in wenigen Wochen durch die ganze Christenheit. Viele ergebene Römlinge, welche die in der Kirche herrschende schreckliche Ungerechtigkeit gesehen und beklagt, aber nicht gewußt hatten, wie sie deren Fortgang aufhalten sollten, lasen die Sätze mit großer Freude und erkannten in ihnen die Stimme Gottes. Sie fühlten, daß der Herr gnädig seine Hand ausgestreckt hatte, um die rasch anschwellende Flut der Verderbnis aufzuhalten, die vom römischen Stuhl ausging. Fürsten und Beamte freuten sich im geheimen, daß der anmaßenden Gewalt, die behauptete, gegen ihre Beschlüsse dürfe kein Einwand erhoben werden, Zügel angelegt werden sollten. – {GK 130.1}
Aber die sündenliebende und abergläubische Menge entsetzte sich, als die Spitzfindigkeiten, die ihre Furcht beseitigt hatten, hinweggefegt wurden. Verschlagene Geistliche, die in ihrem Treiben, das Verbrechen zu billigen, gestört wurden und ihren Gewinn gefährdet sahen, gerieten in Wut und vereinigten sich in dem Bemühen, ihre Behauptungen aufrechtzuerhalten. Der Reformator stieß auf erbitterte Ankläger. Einige beschuldigten ihn, übereilt und impulsiv gehandelt zu haben. Andere nannten ihn vermessen und erklärten, daß er nicht von Gott geleitet werde, sondern aus Stolz und Voreiligkeit handle. „Wer kann eine neue Idee vorbringen“, antwortet er, „ohne einen Anschein von Hochmut, ohne Beschuldigung der Streitlust? Weshalb sind Christus und alle Märtyrer getötet worden? Weil sie stolze Verächter der Wahrheit ihrer Zeit schienen und neue Ansichten aussprachen, ohne die Organe der alten Meinung demütiglich um Rat zu fragen. Ich will nicht, daß nach Menschen Rat, sondern nach Gottes Rat geschehe, was ich tue; ist das Werk von Gott, wer möcht‘s hindern, ist‘s nicht aus Gott, wer möcht‘s fördern? Es geschehe nicht mein, noch ihr, noch euer, sondern Dein Wille, heiliger Vater im Himmel!“ [1]Enders, Bd. I 126, an Lang 11.10.1517 – {GK 130.2}
Obwohl Luther vom Geist Gottes getrieben worden war, sein Werk zu beginnen, sollte er es doch nicht ohne schwere Kämpfe fortführen. Die Vorwürfe seiner Feinde, ihre Mißdeutung seiner Absichten und ihre ungerechten und boshaften Bemerkungen über seinen Charakter und seine Beweggründe ergossen sich gleich einer überstürzenden Flut über ihn und blieben nicht ohne Wirkung. Er hatte zuversichtlich damit gerechnet, daß die Führer des Volkes sowohl in der Kirche als auch in der Universität sich ihm bereitwillig in seinen Bemühungen zugunsten der Reformation anschließen würden. Ermutigende Worte von hochgestellten Persönlichkeiten hatten ihm Freude und Hoffnung eingeflößt. In der Vorahnung hatte er bereits einen helleren Tag für die Gemeinde anbrechen sehen. Doch die Ermutigung verwandelte sich in Vorwurf und Verurteilung. Viele staatliche und kirchliche Würdenträger waren von der Wahrheit seiner Thesen überzeugt; aber sie sahen bald, daß die Annahme dieser Wahrheiten große Umwälzungen mit sich bringen würden. Das Volk zu erleuchten und umzugestalten hieße in Wirklichkeit die Autorität Roms zu untergraben, Tausende von Strömen, die nun in seine Schatzkammer flossen, aufzuhalten und auf diese Weise die Verschwendung und den Aufwand der Herren Roms in hohem Grade zu beschränken. Noch mehr: Das Volk zu lehren, als verantwortliche Geschöpfe zu denken und zu handeln und allein auf Christus zu blicken, um selig zu werden, würde den Thron des Papstes stürzen und am Ende auch die Autorität seiner Würdenträger zugrunde richten. Aus dieser Ursache heraus wiesen sie die von Gott dargebotene Erkenntnis zurück und erhoben sich durch ihren Widerstand gegen den Mann, den Gott zu ihrer Erleuchtung gesandt hatte, wider Christus und die Wahrheit. – {GK 131.1}
Luther zitterte, als er auf sich sah, „mehr eine Leiche, denn einem Menschen gleich“, den gewaltigsten Mächten der Erde gegenübergestellt. Zuweilen zweifelte er, ob ihn der Herr in seinem Widerstand wider die Autorität der Kirche wirklich leitete. Er schrieb: „Wer war ich elender, verachteter Bruder dazumal, der sich sollte wider des Papstes Majestät setzen, vor welcher die Könige auf Erden und der ganze Erdboden sich entsetzten und allein nach seinen Winken sich mußten richten? Was mein Herz in jenen zwei Jahren ausgestanden und erlitten habe und in welcherlei Demut, ja Verzweiflung ich da schwebte, ach! da wissen die sichern Geister wenig von, die hernach des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angriffen.“ [1]Seckendorff, „Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo seu de reformatione“, Bd. I 119f. Doch er wurde nicht gänzlich entmutigt. Fehlten menschliche Stützen, so schaute er auf Gott allein und lernte, daß er sich in vollkommener Sicherheit auf dessen allmächtigen Arm verlassen konnte. – {GK 131.2}
Einem Freund der Reformation schrieb Luther: „Es ist vor allem gewiß, daß man die Heilige Schrift weder durch Studium noch mit dem Verstand erfassen kann. Deshalb ist es zuerst Pflicht, daß du mit dem Gebet beginnst und den Herrn bittest, er möge dir zu seiner Ehre, nicht zu deiner, in seiner großen Barmherzigkeit das wahre Verständnis seiner Worte schenken. Das Wort Gottes wird uns von seinem Urheber ausgelegt, wie er sagt, daß sie alle von Gott gelehrt sind. Hoffe deshalb nichts von deinem Studium und Verstand; vertraue allein auf den Einfluß des Geistes. Glaube meiner Erfahrung.“[1]Enders, Bd.I 142, 18.Januar 1518Hier wird eine außerordentlich wichtige Erfahrung mitgeteilt für alle, die sich von Gott berufen fühlen, andern die ernsten Wahrheiten für die gegenwärtige Zeit zu verkündigen. Diese Wahrheiten erregen die Feindschaft Satans und der Menschen, welche die Fabeln lieben, die er erdichtet hat. Zum Kampf mit den bösen Mächten ist mehr vonnöten als Verstandeskraft und menschliche Weisheit. – {GK 132.1}
Beriefen sich die Gegner auf Gebräuche und Überlieferungen oder auf die Behauptungen und die Autorität des Papstes, so trat Luther ihnen mit der Bibel, nur mit der Bibel entgegen. Darin standen Beweisführungen, die sie nicht widerlegen konnten; deshalb schrien die Sklaven des Formenwesens und des Aberglaubens nach seinem Blut, wie die Juden nach dem Blut Christi geschrien hatten. „Er ist ein Ketzer!“ riefen die römischen Eiferer. „Es ist Hochverrat gegen die Kirche, wenn ein so schändlicher Ketzer noch eine Stunde länger lebt. Auf den Scheiterhaufen mit ihm!“[1]Seckendorff, ebd. S.104 Aber Luther fiel ihrer Wut nicht zum Opfer. Gott hatte eine Aufgabe für ihn bereit, und himmlische Engel wurden ausgesandt, ihn zu beschützen. Viele jedoch, die von Luther das köstliche Licht empfangen hatten, wurden die Zielscheibe der Wut Satans und erlitten um der Wahrheit willen furchtlos Marter und Tod. – {GK 132.2}
Luthers Lehren zogen die Aufmerksamkeit denkender Geister in ganz Deutschland auf sich. Seine Predigten und Schriften verbreiteten Lichtstrahlen, die Tausende erschreckten und erleuchteten. Ein lebendiger Glaube trat an die Stelle toten Formenwesens, in welchem die Kirche so lange gehalten worden war. Das Volk verlor täglich mehr das Zutrauen zu den abergläubischen Lehren der römischen Religion. Die Schranken des Vorurteils gaben nach. Das Wort Gottes, nach dem Luther jede Lehre und jede Behauptung prüfte, war gleich einem zweischneidigen Schwert, das sich seinen Weg in die Herzen des Volkes bahnte. Überall erwachte das Verlangen nach geistlichem Wachstum; überall entstand ein so großer Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, wie man ihn seit Jahrhunderten nicht gekannt hatte. Die bis dahin auf menschliche Gebräuche und irdische Vermittler gerichteten Blicke des Volkes wandten sich nun reuevoll und gläubig auf Christus, den Gekreuzigten. – {GK 133.1}
Dieses weitverbreitete Heilsverlangen erweckte noch mehr die Furcht der päpstlichen Autoritäten. Luther erhielt eine Vorladung, in Rom zu erscheinen, um sich gegen die Beschuldigung, Ketzerei getrieben zu haben, zu verantworten. Diese Aufforderung erfüllte seine Freunde mit Schrecken. Sie kannten nur zu gut die Gefahr, die ihm in jener verderbten, vom Blut der Zeugen Jesu trunkenen Stadt drohte. Sie erhoben Einspruch gegen seine Reise nach Rom und befürworteten ein Gesuch, ihn in Deutschland verhören zu lassen. – {GK 133.2}
Dies wurde schließlich genehmigt und der päpstliche Gesandte Cajetan dazu bestimmt, den Fall anzuhören. In den ihm mitgegebenen Anweisungen hieß es, daß Luther bereits als Ketzer erklärt worden sei. Der päpstliche Gesandte wurde deshalb beauftragt, „ihn zu verfolgen und unverzüglich in Haft zu nehmen“. Falls Luther standhaft bliebe oder der Legat seiner nicht habhaft würde, war der Vertreter Roms bevollmächtigt, ihn an allen Orten Deutschlands zu ächten, zu verbannen, zu verfluchen und alle seine Anhänger in den Bann zu tun. [1]Luther, EA, op. lat. XXXIII 354f.Um die pestartige Ketzerei auszurotten, befahl der Papst seinem Gesandten, außer dem Kaiser alle ohne Rücksicht auf ihr Amt in Kirche und Staat in die Acht zu erklären, falls sie es unterließen, Luther und seine Anhänger zu ergreifen und der Rache Roms auszuliefern. – {GK 133.3}
Hier zeigte sich der wahre Geist des Papsttums. Nicht ein Anzeichen christlicher Grundsätze oder auch nur gewöhnlicher Gerechtigkeit war aus dem ganzen Schriftstück ersichtlich. Luther war weit von Rom entfernt; ihm war keine Gelegenheit gegeben gewesen, seinen Standpunkt zu erklären oder zu verteidigen, sondern er war, bevor man seinen Fall untersucht hatte, ohne weiteres als Ketzer erklärt und am selben Tag ermahnt, angeschuldigt, gerichtet und verurteilt worden, und zwar von dem, der sich selbst „Heiliger Vater“ nannte, der alleinigen höchsten, unfehlbaren Autorität in Kirche und Staat! – {GK 134.1}
Um diese Zeit, da Luther der Liebe und des Rates eines treuen Freundes so sehr bedurfte, sandte Gottes Vorsehung Melanchthon nach Wittenberg. Jung an Jahren, bescheiden und zurückhaltend in seinem Benehmen, gewannen Melanchthons gesundes Urteil, umfassendes Wissen und gewinnende Beredsamkeit im Verein mit der Reinheit und Redlichkeit seines Charakters ihm allgemeine Achtung und Bewunderung. Seine glänzenden Talente waren nicht bemerkenswerter als die Sanftmut seines Gemüts. Er wurde bald ein eifriger Jünger des Evangeliums und Luthers vertrautester Freund und wertvollster Helfer; seine Sanftmut, Vorsicht und Genauigkeit ergänzten Luthers Mut und Tatkraft. Ihr vereintes Wirken gab der Reformation die erforderliche Kraft und war für Luther eine Quelle großer Ermutigung. – {GK 134.2}
Augsburg war als Ort des Verhörs bestimmt worden. Der Reformator trat die Reise zu Fuß an. Man hegte seinetwegen ernste Befürchtungen. Es war ihm öffentlich gedroht worden, daß er auf dem Wege ergriffen und ermordet würde, und seine Freunde baten ihn, sich dem nicht auszusetzen. Sie drangen sogar in ihn, Wittenberg eine Zeitlang zu verlassen und sich dem Schutz derer anzuvertrauen, die ihn bereitwillig beschirmen würden. Er aber wollte den Platz nicht verlassen, auf den Gott ihn gestellt hatte. Ungeachtet der über ihn hereinbrechenden Stürme mußte er getreulich die Wahrheit weiterführen. Er sagte sich: „Ich bin mit Jeremia gänzlich der Mann des Haders und der Zwietracht ... je mehr sie drohen, desto freudiger bin ich ... mein Name und Ehre muß auch jetzt gut herhalten; also ist mein schwacher und elender Körper noch übrig, wollen sie den hinnehmen, so werden sie mich etwa um ein paar Stunden Leben ärmer machen, aber die Seele werden sie mir doch nicht nehmen ... wer Christi Wort in die Welt tragen will, muß mit den Aposteln stündlich gewärtig sein, mit Verlassung und Verleugnung aller Dinge den Tod zu leiden.“[1]Enders, Bd.I. S.211f., 10.7.1518 – {GK 134.3}
Die Nachricht von Luthers Ankunft in Augsburg erfüllte den päpstlichen Gesandten mit großer Genugtuung. Der unruhestiftende Ketzer, der die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregte, schien nun in der Gewalt Roms zu sein, und der Legat war entschlossen, ihn nicht entrinnen zu lassen. Der Reformator hatte versäumt, sich mit einem Sicherheitsgeleit zu versehen. Seine Freunde überredeten ihn, nicht ohne Geleit vor dem Gesandten zu erscheinen, und versuchten, ihm eins vom Kaiser zu verschaffen. Der Vertreter Roms hatte die Absicht, Luther — wenn möglich — zum Widerruf zu zwingen oder, falls ihm dies nicht gelänge, ihn nach Rom bringen zu lassen, damit er dort das Schicksal eines Hus und Hieronymus teile. Deshalb versuchte er durch seine Beauftragten Luther zu bewegen, ohne Sicherheitsgeleit zu erscheinen und sich seiner Gnade anzuvertrauen. Der Reformator lehnte dies jedoch ab und erschien nicht eher vor dem päpstlichen Gesandten, bis er den Brief, der den Schutz des Kaisers verbürgte, erhalten hatte. – {GK 135.1}
Klüglich hatten sich die Römlinge entschlossen, Luther durch scheinbares Wohlwollen zu gewinnen. Der Legat zeigte sich in seinen Unterredungen mit ihm sehr freundlich, verlangte aber, daß Luther sich der Autorität der Kirche bedingungslos unterwerfen und in jedem Punkt ohne Beweis oder Frage nachgeben solle. Er hatte den Charakter des Mannes, mit dem er verhandelte, nicht richtig eingeschätzt. Luther drückte in Erwiderung seine Achtung vor der Kirche aus, sein Verlangen nach der Wahrheit, seine Bereitwilligkeit, alle Einwände gegen das, was er gelehrt hatte, zu beantworten und seine Lehren dem Entscheid gewisser führender Universitäten zu unterbreiten. Gleichzeitig aber protestierte er gegen die Verfahrensweise des Kardinals, von ihm einen Widerruf zu verlangen, ohne ihm den Irrtum bewiesen zu haben. – {GK 135.2}
Die einzige Antwort war: „Widerrufe! Widerrufe!“ Der Reformator berief sich auf die Heilige Schrift und erklärte entschlossen, daß er die Wahrheit nicht aufgeben könne. Der Legat, den Beweisführungen Luthers nicht gewachsen, überhäufte ihn so mit Vorwürfen, Spott und Schmeicheleien, vermengt mit Zitaten der Kirchenväter und aus der Überlieferung, daß der Reformator nicht recht zu Worte kam. Luther, der die Nutzlosigkeit einer derartigen Unterredung einsah, erhielt schließlich die mit Widerstreben erteilte Erlaubnis, seine Verteidigung schriftlich einzureichen. – {GK 135.3}
Dadurch erzielte Luther trotz seiner Bedrückung einen doppelten Gewinn. Er konnte seine Verteidigung der ganzen Welt zur Beurteilung unterbreiten und auch besser durch eine gutausgearbeitete Schrift auf das Gewissen und die Furcht eines anmaßenden und geschwätzigen Tyrannen einwirken, der ihn immer wieder überschrie.[1]Luther, EA, XVII 209; L III 3f. – {GK 136.1}
Bei der nächsten Zusammenkunft gab Luther eine klare, gedrängte und eindrucksvolle Erklärung ab, die er durch viele Schriftstellen begründete, und überreichte sie dann dem Kardinal. Dieser warf sie jedoch verächtlich beiseite mit der Bemerkung, sie enthalte nur eine Menge unnütze Worte und unzutreffender Schriftstellen. Luther, dem jetzt die Augen aufgegangen waren, begegnete dem überheblichen Prälaten auf dessen ureigenstem Gebiet, den Überlieferungen und Lehren der Kirche, und widerlegte dessen Darlegungen gründlich und völlig. – {GK 136.2}
Als der Prälat sah, daß Luthers Gründe unwiderlegbar waren, verlor er seine Selbstbeherrschung und rief zornig aus: „Widerrufe!“ Wenn er dies nicht sofort täte oder in Rom sich seinen Richtern stellte, so würde er über ihn und alle, die ihm gewogen seien, den Bannfluch, und über alle, zu denen er sich hinwendete, das kirchliche Interdikt verhängen. Zuletzt erhob sich der Kardinal mit den Worten: „Geh! widerrufe oder komm mir nicht wieder vor die Augen.“ [1]Luther, EA, LXIV 361-365; LXII 71f. – {GK 136.3}
Der Reformator zog sich sofort mit seinen Freunden zurück und gab deutlich zu verstehen, daß man keinen Widerruf von ihm erwarten könne. Das entsprach keineswegs der Hoffnung des Kardinals. Er hatte sich geschmeichelt, mit Gewalt und Einschüchterung zur Unterwerfung zwingen zu können. Mit seinen Helfern jetzt allein gelassen, blickte er höchst ärgerlich über das unerwartete Mißlingen seiner Anschläge von einem zum andern. – {GK 136.4}
Luthers Bemühungen bei diesem Anlaß waren nicht ohne gute Folgen. Die anwesende große Versammlung hatte Gelegenheit die beiden Männer zu vergleichen und sich selbst ein Urteil zu bilden über den Geist, der sich in ihnen offenbarte, und über die Stärke und die Wahrhaftigkeit ihrer Stellung. Welch bezeichnender Unterschied! Luther, einfach, bescheiden, entschieden, stand da in der Kraft Gottes, die Wahrheit auf seiner Seite; der Vertreter des Papstes, eingebildet, anmaßend, hochmütig und unverständig, ohne auch nur einen einzigen Beweis aus der Heiligen Schrift, laut schreiend: Widerrufe oder du wirst nach Rom geschickt werden, um dort die verdiente Strafe zu erleiden! – {GK 136.5}
Das Sicherheitsgeleit Luthers nicht achten wollend, planten die Römlinge, ihn zu ergreifen und einzukerkern. Seine Freunde baten ihn dringend, da es für ihn nutzlos sei, seinen Aufenthalt zu verlängern, ohne Aufschub nach Wittenberg zurückzukehren, dabei aber äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen, um seine Absichten zu verbergen. Demgemäß verließ er Augsburg vor Tagesanbruch zu Pferde, nur von einem Führer geleitet, der ihm vom Stadtoberhaupt zur Verfügung gestellt wurde. Unter trüben Ahnungen nahm er heimlich seinen Weg durch die dunklen, stillen Straßen der Stadt, sannen doch wachsame und grausame Feinde auf seinen Untergang! Würde er den ausgelegten Schlingen entrinnen? Dies waren Augenblicke der Besorgnis und ernsten Gebets. Er erreichte ein kleines Tor in der Stadtmauer. Man öffnete ihm, und ohne gehindert zu werden, zog er mit seinem Führer hinaus. Sich außerhalb des Stadtbezirks sicherer fühlend, beschleunigten die Flüchtlinge ihren Ritt, und ehe noch der Legat von Luthers Abreise Kenntnis erhielt, befand dieser sich außerhalb des Bereiches seiner Verfolger. Satan und seine Abgesandten waren überlistet. Der Mann, den sie in ihrer Gewalt glaubten, war entkommen wie der Vogel den Schlingen des Voglers. – {GK 137.1}
Die Nachricht von Luthers Flucht überraschte und ärgerte den Legaten. Er hatte erwartet, für die Klugheit und Entschiedenheit bei seinen Verhandlungen mit diesem Unruhestifter in der Kirche große Ehren zu empfangen, fand sich jedoch in seiner Hoffnung getäuscht. Er gab seinem Zorn in einem Brief an den Kurfürsten von Sachsen, Friedrich den Weisen, Ausdruck, in dem er Luther bitter anschuldigte und verlangte, Friedrich solle den Reformator nach Rom senden oder aus Sachsen verbannen. – {GK 137.2}
Zu seiner Rechtfertigung verlangte Luther, daß der Legat oder der Papst ihn seiner Irrtümer aus der Heiligen Schrift überführen solle, und verpflichtete sich feierlichst, seine Lehren zu widerrufen, falls nachgewiesen werden könne, daß sie dem Worte Gottes widersprächen. Er dankte Gott, daß er für würdig erachtet worden sei, um einer so heiligen Sache willen zu leiden. – {GK 138.1}
Der Kurfürst wußte bis dahin nur wenig von den reformierten Lehren; aber die Aufrichtigkeit, die Kraft und die Klarheit der Worte Luthers machten einen tiefen Eindruck auf ihn, und er beschloß, so lange als des Reformators Beschützer aufzutreten, bis dieser des Irrtums überführt würde. Als Erwiderung auf die Forderung des päpstlichen Gesandten schrieb er: „Weil der Doktor Martinus vor euch zu Augsburg erschienen ist, so könnt ihr zufrieden sein. Wir haben nicht erwartet, daß ihr ihn, ohne ihn widerlegt zu haben, zum Widerruf zwingen wollt. Kein Gelehrter in unseren Fürstenhäusern hat behauptet, daß die Lehre Martins gottlos, unchristlich und ketzerisch sei.“[1]Luther, EA, op. lat. XXXIII 409f.; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 4.Buch, 10.Abschnitt Der Fürst weigerte sich, Luther nach Rom zu schicken oder ihn aus seinem Lande zu vertreiben. – {GK 138.2}
Der Kurfürst sah, daß die sittlichen Schranken der Gesellschaft allgemein zusammenbrachen. Eine große Reform war nötig geworden. Die verwickelten und kostspieligen polizeilichen und juristischen Einrichtungen wären unnötig, wenn die Menschen Gottes Gebote und die Vorschriften eines erleuchteten Gewissens anerkennten und ihnen Gehorsam leisteten. Er sah, daß Luther darauf hinarbeitete, dieses Ziel zu erreichen, und er freute sich heimlich, daß ein besserer Einfluß in der Kirche fühlbar wurde. – {GK 138.3}
Er sah auch, daß Luther als Professor an der Universität ungemein erfolgreich war. Nur ein Jahr war verstrichen, seit der Reformator seine Thesen an die Schloßkirche geschlagen hatte; die Zahl der Pilger, welche die Kirche aus Anlaß des Allerheiligenfestes besuchten, war geringer geworden. Rom war seiner Anbeter und Opfergaben beraubt worden; aber ihr Platz wurde von einer andern Gruppe eingenommen, die jetzt nach Wittenberg kam — es waren nicht etwa Pilger, die hier Reliquien verehren wollten, sondern Studenten, die die Hörsäle füllten. Luthers Schriften hatten überall ein neues Verlangen nach der Heiligen Schrift wachgerufen, und nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern auch aus andern Ländern strömten der Universität Studenten zu. Jünglinge, die zum erstenmal der Stadt Wittenberg ansichtig wurden, „erhoben die Hände gen Himmel, lobten Gott, daß er wie einst in Zion das Licht der Wahrheit leuchten lasse und es in die fernsten Lande schicke.“ [1](D‘Aubigné, ebd. – {GK 138.4}
Luther sagte: „Ich sah damals noch sehr wenige Irrtümer des Papstes.“ [1]Luther, EA, LXII 73 Als er aber Gottes Wort mit den päpstlichen Erlassen verglich, schrieb er voll Erstaunen: „Ich gehe die Dekrete der Päpste für meine Disputation durch und bin — ich sage dir‘s ins Ohr — ungewiß, ob der Papst der Antichrist selbst ist oder ein Apostel des Antichrist; elendiglich wird Christus, d.h. die Wahrheit von ihm in den Dekreten gekreuzigt.“ [1]Enders, Bd. I 450, 13.3.1519 Aber noch immer war Luther ein Anhänger der römischen Kirche und dachte nicht daran, sich von ihr leichtfertig und unüberlegt zu trennen. – {GK 139.1}
Die Schriften und Lehren des Reformators gingen zu allen Nationen der Christenheit. Das Werk dehnte sich bis in die Schweiz und nach Holland aus. Abschriften seiner Werke fanden ihren Weg nach Frankreich und Spanien. In England wurden seine Lehren als das Wort des Lebens aufgenommen. Auch nach Belgien und Italien drang die Wahrheit. Tausende erwachten aus einer todesähnlichen Erstarrung zu der Freude und Hoffnung eines Glaubenslebens. – {GK 139.2}
Die Angriffe Luthers erbitterten Rom mehr und mehr, und einige seiner fanatischen Gegner, ja selbst Doktoren katholischer Universitäten erklärten, daß, wer Luther ermorde, keine Sünde begehe. Eines Tages näherte sich dem Reformator ein Fremder, der eine Pistole unter dem Mantel verborgen hatte, und fragte ihn, warum er so allein gehe. „Ich stehe in Gottes Hand“, antwortete Luther. „Er ist meine Kraft und mein Schild. Was kann mir ein Mensch tun?“ [1]Luther, EA, LXIV 365f. Als der Unbekannte diese Worte hörte, erblaßte er und floh wie vor himmlischen Engeln. – {GK 139.3}
Rom hatte die Vernichtung Luthers beschlossen; aber Gott war seine Wehr. Überall vernahm man seine Lehren, „in Hütten und Klöstern, in Ritterburgen, in Akademien und königlichen Palästen“; und überall erhoben sich edle, aufrichtige Männer, um seine Anstrengungen zu unterstützen. – {GK 139.4}
Um diese Zeit las Luther Hus‘ Werke und als er dabei fand, daß auch der böhmische Reformator die große Wahrheit der Rechtfertigung durch den Glauben hochgehalten hatte, schrieb er: „Ich habe bisher unbewußt alle seine Lehren vorgetragen und behauptet ... Wir sind Hussiten, ohne es zu wissen; schließlich sind auch Paulus und Augustin bis aufs Wort Hussiten. Ich weiß vor starrem Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich die schrecklichen Gerichte Gottes in der Menschheit sehe, daß die offenkundige evangelische Wahrheit schon seit über hundert Jahren öffentlich verbrannt ist und für verdammt gilt.“ [1]Enders, Bd. II 345, Februar 1520 – {GK 140.1}
In einem Sendbrief an den Kaiser und den christlichen Adel deutscher Nation zur Besserung des christlichen Standes schrieb Luther über den Papst: „Es ist greulich und erschrecklich anzusehen, daß der Oberste in der Christenheit, der sich Christi Statthalter und Petri Nachfolger rühmt, so weltlich und prächtig fährt, daß ihn darin kein König, kein Kaiser mag erlangen und gleich werden ... Gleicht sich das mit dem armen Christus und St. Peter, so ist‘s ein neues Gleichen.“ „Sie sprechen, er sei ein Herr der Welt; das ist erlogen, denn Christus, des Statthalter und Amtmann er sich rühmet, sprach vor Pilatus: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘. Es kann doch kein Statthalter weiter regieren denn sein Herr.“ [1]Luther, „Ausgewählte Werke“, Bd II, München, 1948; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 6.Buch, 3.Abschnitt, 77,81, Stuttgart, 1848 – {GK 140.2}
Von den Universitäten schrieb er folgendes: „Ich habe große Sorge, die hohen Schulen seien große Pforten der Hölle, so sie nicht emsiglich die Heilige Schrift üben und treiben ins junge Volk.“ „Wo aber die Heilige Schrift nicht regiert, da rate ich fürwahr niemand, daß er sein Kind hintue. Es muß verderben alles, was nicht Gottes Wort ohne Unterlaß treibt.“ [1]Luther, „Ausgewählte Werke“, Bd II, München, 1948; D‘Aubigné, „Geschichte der Reformation“, 6.Buch, 3.Abschnitt, 77,81, Stuttgart, 1848 – {GK 140.3}
Dieser Aufruf verbreitete sich mit Windeseile über ganz Deutschland und übte einen mächtigen Einfluß auf das Volk aus. Die ganze Nation war in Erregung und große Scharen wurden angetrieben, sich um die Fahne der Reformation zu sammeln. Luthers Gegner drangen voller Rachegelüste in den Papst, entscheidende Maßnahmen gegen ihn zu treffen. Es wurde beschlossen, Luthers Lehren sofort zu verdammen. Sechzig Tage wurden dem Reformator und seinen Anhängern gewährt, zu widerrufen; nach dieser Zeit sollten sie sonst aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden. – {GK 140.4}
Dies war die Zeit einer großen Entscheidung für die Reformation. Jahrhundertelang hatte Rom durch das Verhängen des Kirchenbannes mächtigen Monarchen Schrecken eingeflößt und gewaltige Reiche mit Elend und Verwüstung erfüllt. Alle von Roms Fluch Betroffenen wurden allgemein mit Furcht und Entsetzen angesehen; sie wurden von dem Verkehr mit ihren Glaubensbrüdern ausgeschlossen und als Geächtete behandelt, die man hetzen müsse, bis sie ausgerottet seien. Luther war nicht blind gegen den über ihn hereinbrechenden Sturm; aber er stand fest, vertrauend auf Christus, der sein Helfer und sein Schirm sei. Mit dem Glauben und dem Mut eines Märtyrers schrieb er: „Wie soll es werden? Ich bin blind für die Zukunft und nicht darum besorgt sie zu wissen ... Wohin der Schlag fällt, wird mich ruhig lassen ... Kein Baumblatt fällt auf die Erde ohne den Willen des Vaters, wieviel weniger wir ... Es ist ein geringes, daß wir um des Wortes willen sterben oder umkommen, da er selbst im Fleisch erst für uns gestorben ist. Also werden wir mit demselben aufstehen, mit welchem wir umkommen und mit ihm durchgehen, wo er zuerst durchgegangen ist, daß wir endlich dahin kommen, wohin er auch gekommen ist und bei ihm bleiben ewiglich.“ [1]Enders, Bd. II 484,485, 1.10.1520; D‘Aubigné, ebd., 6.Buch, Kapitel 1. S.113 – {GK 141.1}
Als die päpstliche Bulle Luther erreichte, schrieb er: „Endlich ist die römische Bulle mit Eck angekommen ... Ich verlache sie nur und greife sie jetzt als gottlos und lügenhaft ganz eckianisch an. Ihr sehet, daß Christus selbst darin verdammt werde ... Ich freue mich aber doch recht herzlich, daß mir um der besten Sache willen Böses widerfahre ... Ich bin nun viel freier, nachdem ich gewiß weiß, daß der Papst als der Antichrist und des Satans Stuhl offenbarlich erfunden sei.“[1]Enders, Bd. II 491, 12.10.1520 – {GK 141.2}
Doch der Erlaß Roms blieb nicht wirkungslos. Gefängnis, Folter und Schwert erwiesen sich als mächtige Waffen, um Gehorsam zu erzwingen. Schwache und Abergläubische erzitterten vor dem Erlaß des Papstes. Während man Luther allgemein Teilnahme bekundete hielten doch viele ihr Leben für zu kostbar, um es für die Reformation zu wagen. Alles schien darauf hinzudeuten, daß sich das Werk des Reformators seinem Abschluß näherte. – {GK 141.3}
Luther aber blieb noch immer furchtlos. Rom hatte seine Bannflüche gegen ihn geschleudert, und die Welt schaute zu in der sicheren Erwartung, daß er verderben oder sich unterwerfen müsse. Doch mit schrecklicher Gewalt schleuderte er das Verdammungsurteil auf seinen Urheber zurück und erklärte öffentlich seinen Entschluß, auf immer mit Rom zu brechen. In Gegenwart einer großen Anzahl von Studenten, Gelehrten und Bürgersleuten jeglichen Ranges verbrannte Luther die päpstliche Bulle, auch die Dekretalien und andere Schriftstücke seiner Gegner, die Roms Macht unterstützten. Er begründete sein Vorgehen mit den Worten: „Dieweil durch ihr solch Bücherverbrennen der Wahrheit ein großer Nachteil und bei dem schlechten, gemeinen Volk ein Wahn dadurch erfolgen möchte zu vieler Seelen Verderben, habe ich ... der Widersacher Bücher wiederum verbannt.“ „Es sollen diese ein Anfang des Ernstes sein; denn ich bisher doch nur gescherzt und gespielt habe mit des Papstes Sache. Ich habe es in Gottes Namen angefangen; hoffe, es sei an der Zeit, daß es auch in demselben ohne mich sich selbst ausführe.“ [1]Luther, EA, XXIV 155,164 – {GK 142.1}
Auf die Vorwürfe seiner Feinde, die ihn mit der Schwäche seiner Sache stichelten, erwiderte Luther: „Wer weiß, ob mich Gott dazu berufen und erweckt hat und ihnen zu fürchten ist, daß sie nicht Gott in mir verachten ... Mose war allein im Ausgang von Ägypten, Elia allein zu König Ahabs Zeiten, Elisa auch allein nach ihm; Jesaja war allein in Jerusalem ... Hesekiel allein zu Babylon ... Dazu hat er noch nie den obersten Priester oder andere hohe Stände zu Propheten gemacht; sondern gemeiniglich niedrige, verachtete Personen auferweckt, auch zuletzt den Hirten Amos ... Also haben die lieben Heiligen allezeit wider die Obersten, Könige, Fürsten, Priester, Gelehrten predigen und schelten müssen, den Hals daran wagen und lassen ... Ich sage nicht, daß ich ein Prophet sei; ich sage aber, daß ihnen so vielmehr zu fürchten ist, ich sei einer, so vielmehr sie mich verachten und sich selbst achten ... so bin ich jedoch gewiß für mich selbst, daß das Wort Gottes bei mir und nicht bei ihnen ist.“[1]Luther, EA, XXIV 58.59 – {GK 142.2}
Aber nicht ohne gewaltigen inneren Kampf entschloß sich Luther schließlich zu einer Trennung von Rom. Etwa um diese Zeit schrieb er: „Ich empfinde täglich bei mir, wie gar schwer es ist, langwährige Gewissen, und mit menschlichen Satzungen gefangen, abzulegen. Oh, mit wie viel großer Mühe und Arbeit, auch durch gegründete Heilige Schrift, habe ich mein eigen Gewissen kaum können rechtfertigen, daß ich einer allein wider den Papst habe dürfen auftreten, ihn für den Antichrist halten ... Wie oft hat mein Herz gezappelt, mich gestraft, und mir vorgeworfen ihr einig stärkstes Argument: Du bist allein klug? Sollten die andern alle irren, und so eine lange Zeit geirrt haben? Wie, wenn du irrest und so viele Leute in den Irrtum verführest, welche alle ewiglich verdammt würden? Bis so lang, daß mich Christus mit seinem einigen gewissen Wort befestigt und bestätigt hat, daß mein Herz nicht mehr zappelt.“ [1]Luther, EA, LIII 93,94; Martyn, „Life and Times of Luther“ 372,373 – {GK 143.1}
Der Papst hatte Luther den Kirchenbann angedroht, falls er nicht widerrufen sollte, und die Drohung wurde jetzt ausgeführt. Eine neue Bulle erschien, welche die endgültige Trennung des Reformators von der römischen Kirche aussprach, ihn als vom Himmel verflucht erklärte und in die gleiche Verdammung alle einschloß, die seine Lehren annehmen würden. Der große Kampf hatte nun mit aller Gewalt begonnen. – {GK 143.2}
Widerstand ist das Schicksal aller, die Gott benutzt, um Wahrheiten, die besonders für ihre Zeit gelten, zu verkündigen. Es gab eine gegenwärtige Wahrheit in den Tagen Luthers — eine Wahrheit, die zu jener Zeit von besonderer Wichtigkeit war; es gibt auch eine gegenwärtige Wahrheit für die heutige Kirche. Gott, der alles nach dem Rat seines Willens vollzieht, hat es gefallen, die Menschen in verschiedene Verhältnisse zu bringen und ihnen Pflichten aufzuerlegen, die der Zeit, in der sie leben, und den Umständen, in denen sie sich befinden, entsprechen. Würden sie das ihnen verliehene Licht wertschätzen, so würde ihnen auch die Wahrheit in höherem Maße offenbart werden. Aber die Mehrzahl der Menschen begehrt die Wahrheit heutzutage ebensowenig zu wissen wie damals die Römlinge, die Luther widerstanden. Es besteht noch heute die gleiche Neigung wie in früheren Zeiten, statt des Wortes Gottes Überlieferungen und menschliche Theorien anzunehmen. Wer die Wahrheit für diese Zeit bringt, darf nicht erwarten, eine günstigere Aufnahme zu finden als die früheren Reformatoren. Der große Kampf zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Christus und Satan wird bis zum Ende der Geschichte dieser Welt an Heftigkeit zunehmen. – {GK 143.3}
Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich habe euch von der Welt erwählt, darum haßt euch die Welt. Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: ‚Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr.‘ Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.“Johannes 15,19.20. Anderseits erklärte unser Heiland deutlich: „Weh euch, wenn euch jedermann wohlredet! Desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch.“ Lukas 6,26. Der Geist der Welt steht heute dem Geist Christi nicht näher als in früheren Zeiten. Wer das Wort Gottes in seiner Reinheit verkündigt, wird heute nicht willkommener sein als damals. Die Art und Weise des Widerstandes gegen die Wahrheit mag sich ändern, die Feindschaft mag weniger offen sein, weil sie verschlagener ist; aber dieselbe Feindschaft besteht noch und wird bis zum Ende der Zeit sichtbar sein. – {GK 144.1}
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